Der Anfang meiner ehrenamtlichen Tätigkeit Ich sitze im 2. Stock des erst vor wenigen Jahren neu erbauten Eduard-Knoll Wohnheims in Krautheim auf einer Couch und warte auf eine Bewohnerin, mit der ich hier ein Treffen vereinbart habe. Unweit von mir befindet sich der Fahrstuhl, aus dem in kurzen Abständen ein Rollstuhl nach dem anderen heraus gefahren kommt. Ich höre das Surren von Elektromotoren und das Quietschen der Gummiräder auf dem Fussbodenbelag. "Was tust Du hier? Das ist doch das verrückteste, was dir in der letzten Zeit eingefallen ist!" denke ich mir. Diese befremdenden Geräusche lassen keinen Zweifel daran aufkommen: ich bin an einem Ort jenseits der Alltagswirklichkeit. Um welche Wirklichkeit handelt es sich hier? "Wo sind deine Gefühle?" denke ich und suche nach. "Irgendwo müssten sie doch zu finden sein?" Ich bemerke in mir eine aufkommende Neigung, mich zu Panzern und gleichzeitig eine sich ausbreitende Unsicherheit. Neben mir steht eine Art fahrbarer hydraulischer Kran mit einem großen Bügel und riesigen Haken daran. Aus den Augenwinkeln sehe ich, daß sich offenbar auch schematische Bilder zur richtigen Benutzung auf dem Kranarm befinden. "Nein, das jetzt nicht !" Ich entscheide mich spontan für das Ausblenden. Ich ahne: der größte Unsicherheitsfaktor bei diesem Unternehmen bin ich. Wie weit werde ich mich durch Andersartigkeit verunsichern lassen? Ich rechne nun mit dem Eintreten von etwas Unerwarteten und bin hellwach. Jetzt höre ich Geräusche von sich öffnenden Türen, ein Rollststuhl nähert sich. Da kommt er schon, der entscheidende Augenblick. Ich erhebe mich, gehe auf Sie zu, mir lächelt ein freundliches Gesicht mit sanften Zügen entgegen. Alles in allem ein angenehme Erscheinung, offenbar in meinem Alter. Das erste, was mir auffällt sind die lebhaften Augen, die Wachheit und Geistesgegenwart. Sie fragt mich, was eigentlich meine Idee gewesen sei. Ich erzähle ihr, daß ich als Jurist schon längere Zeit arbeitslos sei, daß mir das Heim schon immer wieder aufgefallen sei und ich plötzlich den Einfall gehabt hatte, mich hier zu engagieren, daß ich irgendetwas tun wollte, ein email mit einem Angebot an die Heimleitung geschickt hätte und man mir daraufhin einen Vorschlag gemacht habe. Aber den Begriff des ehrenamtlichen Engagements hätte ich nur gebraucht weil man sich darunter irgendwas vorstellen kann, aber eigentlich sei dies ein Experiment mit der Wirklichkeit. Hierunter könne man sich eben nichts vorstellen, diese Sicht sei so unvergleichlich, daß man sie besser nicht erwähnt. Irgendwann sei mir dieser Gedanke gekommen und als ich fand, daß er unabweisbar richtig sei und nicht mehr zu verbessern, hätte ich sämtliches weiteres Nachdenken hierüber einfach abgeschnitten und sofort ein mail an das Heim geschrieben, erkläre ich Ihr. Ich schaue Sie an. Für einen Moment steht die Frage im Raum, ob ich mit dem Experiment Ihre oder meine Wirklichkeit meine. Aber gibt es nicht ein Stück Wirklichkeit, das noch ungeteilt wäre, trotz der individuellen Unterschiede und aller gesellschaftlichen Ausgrenzungen, das noch gemeinsam bewohnt werden könntet? Ich erkläre, daß ich von einseitigen Verhältnissen nichts halte wie die Beziehung von Helfer zu Hilfsbedürftigen, und daß ich glaube, daß unser Verhältnis, wenn es glückt, auf jeden Fall daran zu erkennen sein wir, daß es wechselseitig ist. Das findet sie erstaunlich. Und ich kann es nicht sogleich erklären und staune insgeheim ebenso über meine unbekümmerte Behauptung. Mir gefällt ihre genaue, akribische Art des Hinhörens. Im Zweifelsfall fragt sie nochmal nach, will den ganzen Gedankengang erfassen. Sie ist eine anspruchsvolle Gesprächspartnerin. Schliesslich erkundige ich mich nach ihrer Krankheit und wie sie behindert wurde. Mein Erschrecken ist ein doppeltes und kommt gleich zu Beginn Ihrer Antwort. Ruhig und gelassen erzählt Sie, daß sie als Folge von M-S demnächst vollständig erblindet. Zur Zeit wären Ihr noch ungefähr 5% ihres Sehvermögens geblieben. Ich erschrecke nicht nur über das, was sie mir erzählt, sondern weil ich sofort merke: Jetzt bin ich ganz blank, wie früher als Schüler, der eine Klassenarbeit zu schreiben hat aber vorher nichts gelernt hat. Schlagartig bin ich befreit von allem Halbwissen und mein Experiment zeigt sich als das, was es ist: ein unglaubliches Wagnis. Sie spricht über Schübe, die immer häufiger kommen. Der ganze Körper sei betroffen, alle Nervenbahnen, alle Verbindungen, über die elektrische Signale geleitet werden. Die M-S habe bei ihr ein Stadium erreicht, in dem alles auf dem Spiel steht und absolut nichts mehr ist außen vor ist. Nun ist es der Sehnerv, früher waren es die Nervenbahnen, mit denen Beine und Hände gesteuert wurden. Schweigend versuche ich das Entsetzen auszuhalten. Manchmal liege Sie tagelang im Bett. Aber diese Krankheit würde immer weiter gehen, auch wenn man verzweifelt wie sie dagegen kämpft. Sie sei Grundschullehrerin gewesen, war Erzieherin und Pädagogin mit Leib und Seele, bis das nicht mehr ging, die Krankheit und die Verantwortung als Lehrerin. Ihre Arbeitskollegen seien schließlich über ihren Rückzug erleichtert gewesen. Ihr aber ist es sehr schwer gefallen. Sie sei dann von der Kranken zur Behinderten geworden. Das habe den Vorteil, daß nun die geringere Leistungsfähigkeit selbstverständlich toleriert werde, daß man sich nicht mehr für das Krank-Sein rechtfertigen müsse, daß man Pflege und Hilfe erhält, aber dafür müsse man sich in eine neue soziale Rolle finden. Das sei die Normalisierung durch Behinderung. Sie sei schließlich froh gewesen, an einer Front Ruhe zu haben, weil sie ja mit dem Körper ohnehin am Kämpfen ist. Aber dafür müsse man sich anpassen, dankbar sein. Dann würde man sehr bald begreifen, daß es da nicht nur um eine andere Rolle ging, sondern daß einem damit auch einen Teil seines Mensch-seins abgehandelt werde. Dabei sei von dem Nichtkönnen immer nur den Körper betroffen, und nicht etwa das Mensch sein können. Es scheint, als hätte sie mir ein Einsatzzeichen gegeben. Dankbar nehme ich das Angebot an und rede wieder ein wenig, eher um die Fassung zurückzugewinnen als um etwas wesentliches zu sagen. Ich bin mit meinem Latein ohnehin schon am Ende. Immerhin, daß sie im Wohnheim hier Aufnahme gefunden habe, darüber sei sie sehr froh. Doch nun ermüdet Sie recht schnell. Wir verabreden, uns einmal wöchentlich zu treffen. Hinterher bin ich noch Tagelang beschäftigt damit, das Gehörte zu überdenken und meine Eindrücke zu sortieren. Ich staune, welch ein offener Einblick mir gewährt wurde in Lebenssituationen mit einem imperfekten Körper, die es nur jenseits der Alltagswirklichkeit gibt, in der alles Verunsichernde ausgeblendet wird. Ich fand im Zurechtkommen mit Krankheit und der sozialen Ausgrenzung des Behindert-Seins, daß sich hier ein bemerkenswerten Körpereinsatz zeigte. Im pragmatischen Umgang mit herausfordernden Lebenslagen, zeigt sich bei der Bewohnerin ein persönliches Ringen um Handlungsfähigkeit, das genau das Gegenteil dessen ist, was man sich unter der Hinnahme eines Schicksal vorstellen könnte. Diese Lebendigkeit, diese Tapferkeit und Unverzagtheit könnte auch den Alltag einer Normalität erhellen.