Frei schwebend Nach einer gewissen Anlaufphase haben die Bewohnerin und ich mittlerweile eine Weise des Zusammenspiels entdeckt, das auf Gegenseitigkeit und Rückbezüglichkeit beruht, das aber auch offen für das Unvorhergesehene ist. Immer wenn ich sie besuche und die Zeit reicht, reiche ich Ihr das Essen Mittags. Da Sie keine gute Kontrolle über ihre Hände mehr hat, sind solche kleinen Handreichungen sinnvoll. Mir ist es wichtig, daß Sie daraus nichts besonderes macht und solche Dinge nicht noch fokussiert. Was ist schon dabei, sich bei einfachen, kleinen Selbstverständlichkeiten des Lebens zu helfen? Eigenarten ernst und lebenswichtig zu nehmen und das Nachvollziehbare zu suchen gehört dazu. Wie einfach auch ein solch kleines Zusammenspiel ist, es ist immer wieder auch vertrauensbildend, wenn es gelingt. Sie hat den anspruchsvolleren Beitrag hierzu geleistet, der darin bestand, eine solche Handreichung überhaupt von mir annehmen zu können. Je länger ich Sie kenne, umso deutlicher ist mir geworden, daß Sie eine besondere Weise der Begegnung mit den Herausforderungen des Lebens hat: Sie improvisiert mit ihrem Körper ebenso wie mit dem Leben als solchen. Die gelungene Improvisation beginnt damit, nehmen zu können, was kommt. Nur scheinbar ist dies eine passive Rolle. Was kann einseitiger und schwieriger sein, als Hilfsleistungen als idealer Empfänger aufzufangen? Scheinbar ist das Empfangen nur die letzte, formale Bedingung für Ankommen der Hilfe, aber welche Zumutungen liegen aus Sicht des Hilfsbedürftigen darin. Fänger sein zu können für einen Zuwurf ist eine Kunst und so mancher Entwurf einer helfenden Handlung ist nur gut gemeint, aber nicht gekonnt. Um zur freien Bewegung des Fangens zu kommen, muss man sich öffnen und von eigenen Projektionen befreien. Die Improvisation ist eine direkte Begegnungsweise, die alles auf lebendigen Augenblick setzt. Die meisten Menschen mit Behinderung scheinen hierin besonders erfahren zu sein. Selten habe ich direktere und lebhaftere Reaktionen als von Ihnen erfahren. Dazu muss man sich aufs Spiel einlassen und wissen, daß man es ernst zu nehmen hat. Die Angst darf nicht mehr ängstigen. Allen Konzepte des Bewahrens und Begrenzens ist hier zu entsagen, alles Suchen nach Sicherheiten muss man fahren lassen, Nähe zulassen, vertrauen und mitgehen können. Es ist der hautnahe Kontakt mit dem Leben selbst, der sich nicht vereinnahmen lässt. "Mit der Rück-Sicht darfst Du niemals rechnen", sagt mir die Bewohnerin. Das könnte auch das Motto des Fängers einer Trapez-Truppe sein, denke ich mir oder das Credo eines Solisten. In einer Normalität scheint alles auf das Konzept der Komposition hinauszulaufen, aber wie oft geht diese nicht mit dem Leben zusammen; als Behinderter ist es Not-wendend, die Initiative zu ergreifen und ins Improvisieren zu kommen. Die Improvisation lässt sich aber auch von der Seite der Gemeinschaft her betrachten. Dann erscheint sie als Kunst, das Solo wieder ins gemeinsame Spiel zu bergen. Welch ein Heil für das gemeinsame Spiel könnte darin liegen, ein Solo, das nach einem fast vereinsamenden Lauf in individuelle Eigenheiten schwebend schon fast fehlgeschlagen scheint, zurück zu retten aus der Zone der Verzweiflung in eine vereinte Tonalität, Rhythmik und Harmonie mit der Gemeinschaft? Den Zusammenhalt sollte man nicht verspielen. Nach einem Abend-Essen, an dem ich zusammen mit ihr teilnahm, begleite ich sie zu ihrem Zimmer zurück. Sie möchte sich ins Bett bringen lassen, daher wird der Pflegedienst angerufen. Als die junge Pflegerin erscheint, gehe ich vor die Türe, um so lange zu warten, bis alles geschehen ist. Doch überraschend kommt die Pflegerin vorzeitig aus dem Zimmer heraus, und fragt mich, ob ich nicht hereinkommen möchte um den Umsetzungsvorgang von ihr zu beobachten. Das wäre ein Angebot von ihr, auf das ich eingehen könne, das ich aber nicht annehmen müsse. Sie wartet meine Antwort ab. Mir ist sofort klar, ich habe keine Wahl, das Angebot will ich annehmen, auch wenn ich nicht weiß, was mich erwartet. Ich hätte wohl beide, die Bewohnerin und die Pflegerin auch, maßlos enttäuscht, wenn ich jetzt gekniffen hätte. Dabei hat mich von Anfang an das hydraulische Hebezeug, das ich immer auf dem Flur herumstehen sah und das nun ins Zimmer gefahren wird, besonders beunruhigt. Der Apparat könnte geeignet sein, einen Motorblock aus einem Fahrzeug herauszuheben. Gerade das lebenspraktische Detail kann das Erschrecken speichern. Wenn man nicht den Mut hat, es gezielt ins Auge zu fassen, dann läuft es einem als erschreckende Vorstellung immer nach. Also gehe ich ins Zimmer hinein, wie man es von mir erwartet und lehne mich vorsichtshalber an den Schreibtisch. Die Bewohnerin sagt zu mir: " Bei dem, was Du jetzt siehst, hat mir noch keiner außerhalb des Heims zugeschaut und ich habe auch noch keinen dazu eingeladen. Im Gegenteil, immer habe ich darauf geachtet, daß alle so wenig wie möglich sehen. Du bist der erste." Sie hängt schon in Seilen gehalten 10 cm über dem Rollstuhl und wird in eine Höhe von ca. 2 m hochgepumpt. Sie mag nicht mehr zu mir herüber schauen. Sie hält sich mit ihren Händen an dem Bügel fest, an dem auch die Bänder eingehängt sind. Zum ersten mal sehe ich so zusammengefaltet, aber in ihrer vollen Länge, mit den nicht mehr fuktionsfähigen Beinen, die immer im Rollstuhl unter einer Decke verschwunden waren. Die Bänder, eines um das Gesäß und eines um den Rücken, lassen den ganzen Körper in unnatürlicher Stellung einknicken. Das muss zumindest sehr unbequem, wenn nicht sogar schmerzhaft sein. Sie bestätigt dies später. Ihr eingeknickter Körper, wie er in 2 Metern Höhe schwebt, gibt ein Bild ab, das mitreißend ist. Der körperliche Defekt, die ganze Lebenslage erscheint mir geradezu direkt in diesen unnatürlichen Schwebezustand übersetzt. Jetzt ist Sie ein verrücktes Wagnis eingegangen, denke ich mir. Gerade als Frau sich dem Blick eines Mannes in einer so ungünstigen Situation auszuliefern, zeugt von einem unglaublichen Wagemut und einer Unerschrockenheit. Wieviel Vertrauen wird in dem Zeigen der Verletzlichkeit entgegengebracht! Schließlich ist der ganze Vorgang mit dem "Lifter", so heißt das Gerät, in fünf Minuten beendet. Ich verlasse wieder das Zimmer und verabschiede mich anschließend. Drei Tage später sehe ich sie wieder. In der Zwischenzeit ist mir klargeworden, das Ihr Wagnis eine Mitteilung besonderer Art an mich gewesen ist, mit dem Ziel, das Befremden einer Wirklichkeit und ihrer Details wieder ins gemeinsame Erleben zu retten, denn wir haben nichts in unserem Leben, was da nicht hingehört. Es gibt nur die Alternative, sich der eigenen kompositorischen Katastrophe improvisierend leibhaftig anzunehmen oder an ihr zu verzweifeln. Zur Improvisation muss man die Ebenen wechseln, herauskommen können aus der vorwegnehmenden Einordnung in Ordnungs- und Denkmuster, mit denen das Unvorhergesehene, das ja immer auch zugelassen ist, so wirksam ausgeschlossen wird. Die Bewohnerin sagt, daß es gerade gemeinsame Erlebnisse sind, die ein solches Vertrauen schaffen, daß sie Improvisationen, das Spiel mit dem Unvorhergesehenen, ermöglichen. Denn gemeinsame Erlebnisse können über die Erinnerung wieder betreten und zur Einstimmung genutzt werden. Wenn das stimmt, und ich habe keinen ernsthaften Zweifel daran, dann wächst nicht nur unser spielbares Repertoire, sondern auch unsere Freiheit im Umgang mit neuen Lebenssituationen und ihren Chancen.