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04.06.2013 Freundeskreis

Ein Gespräch, das real so nie stattfand – oder? Von Hans-Jürgen Heckmann



Es war ein trüber Tag und ich saß in meinem Elektrorollstuhl in meiner Stammkneipe, beobachtete die Leute um mich herum und hörte die Wortfetzen, die von ihnen ausgingen. Das tue ich öfters, wenn mir in meinen vier Wänden langweilig wird. Ich nuckelte an meinem Trinkhalm, mit dem ich mein schon schal gewordenes Bier trank. Ohne Trinkhalm könnte ich nichts trinken, da meine Spastik in meinen Armen es nicht zulässt. Ja ja, dachte ich – diese Spastik. Ich konnte aber den Gedanken nicht weiterdenken, da ein vornehm gekleideter Mann mich fragte, ob er sich zu mir setzen dürfte. Ich sagte „Ja, warum nicht.“ Er meinte „Na ja bei ihrer“ - „Behinderung“ ergänzte ich ihn. „Wissen sie, es wäre töricht von mir, wenn mich das stören würde – und das schon länger als ein halbes Jahrhundert.“ „Oh“ sagte er, „schon so lang. Muss doch schrecklich sein.“ „Ach wissen Sie, es gibt Schlimmeres“ entgegnete ich ihm und sagte, dass ich in einem Zentrum für Körperbehinderte wohne, in dem Menschen mit noch schwereren Behinderungen leben. „Ja, aber die haben doch alle ihre Betreuer, und es wird gut gesorgt für sie“, meinte er. Ich sah ihn an und fragte: „Wollen Sie mal mit mir kommen? Ich lade Sie gerne zu mir ein.“ Er zögerte einen Moment und sagte dann: „Ja gern, vielleicht ist das gar nicht so schlecht.“ Nachdem er großzügiger weise meine Rechnung mit bezahlt hat, zogen wir los. Ich in meinem Elektrorollstuhl und er neben mir laufend. Es war nicht weit, und nach etwa 15 Minuten standen wir am Haupteingang des Eduard Knoll Wohnzentrums, in dem außer mir noch 80 Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen lebten. „Ich schlage vor wir machen einen Rundgang, ich erkläre Ihnen alles – und anschließend können wir in meinem Zimmer darüber reden“ sagte ich zu ihm. „Sind sie damit einverstanden?“ „Ja“ sagte er. „Oh, ich vergaß mich vorzustellen. Ich heiße Helmut Wagner, bin Frührentner und schaue mir ein wenig in dieser schönen Landschaft Burgen und andere Sehenswürdigkeiten an. Ich habe ja Zeit.“ Ich stellte mich auch vor und sagte, dass auch ich Zeit habe.
Ich zeigte ihm zuerst die untere Etage, in der sich die Geschäftsleitung und die Verwaltung befanden. Dass hier die Türen offen standen wunderte ihn. Meine Erklärung dazu, dass das bewusst so ist, um das Gefühl des Dazugehörens und eine Gemeinschaft sein zu unterstreichen, beeindruckte ihn. Dann gingen wir in unseren großen Mehrzweckraum, in dem sich Bewohner mit unterschiedlichen Behinderungen zusammen mit Helfern Freizeitaktivitäten wie Mühle- und Damespielen, Rätsel lösen, Menschärgere dich nicht und andere Spielen beschäftigten. Später erklärte ich ihm, dass diese Tagesstrukturierung dazu dient, Bewohnern, die sich nicht selbst beschäftigen können, den Alltag durch Spiele oder Gedächtnistraining und Vorlesen abwechslungsreich zu gestalten.

In meinem Zimmer angekommen meinte er „Alle Achtung, Ihr Heim ist mit seiner Technik vortrefflich, und die Bewohner haben dadurch eine große Selbstständigkeit.“ „Da mögen Sie Recht haben“ entgegnete ich. „Aber jetzt werde ich Ihnen ein paar Dinge sagen, die Sie so bestimmt noch nicht gehört haben.“

„Da ist die Lisa, die den ganzen Tag mehr liegend als sitzend im Rollstuhl verbringt. Sie kann nicht sprechen und sich nur mit ihren Augen und Mimik der Umwelt verständlich machen. Sie hat Multiple Sklerose eine schubförmige Schwächung der Muskulatur und kann weder Arme noch Beine bewegen. Auch das Drehen mit dem Kopf fällt ihr schwer. So kann sie im Sommer keine Fliegen oder Bienen abwehren. Das ist nur ein Beispiel von Vielen. Sie hat trotzdem immer ein Lächeln, wenn man sie anspricht.
Oder Tommy, der nur dann in seinen Rollstuhl kommt, wenn ihn ein Pfleger mit einem Lifter rein hebt und abends wieder in sein Bett. Man muss ihm wie vielen anderen schwerstbehinderten Bewohnern das Essen und Trinken zum Munde führen. Zudem hat er einen auch für ihn unangenehmen Speichelfluss. Ganz abgesehen davon, dass die Leute sich nicht alleine waschen können und beim Toilettengang ebenfalls auf Hilfe angewiesen sind. Apropos angewiesen: Wie will ein Mensch, der nicht sprechen kann zum Ausdruck bringen, dass es ihn juckt oder die Nase verstopft ist – selbst kann er sich nicht die Nase frei machen. Mit Hilfe einer Pflegeperson bringt ihm das gar keine oder nur eine kleine Erleichterung. Und wie kann er dem Pfleger mitteilen, dass er Schmerzen hat und wo. Schlimm können auch die Nächte sein. Schon ein paar Zentimeter im Bett verrutschen kann ihm unangenehm sein. Er kann nicht allein seine liegende Stellung ändern. Zwar schaut die Nachtwache einige Male in die Zimmer, aber wie will er sich äußern, wenn er nicht sprechen kann? Oder er kann die Alarmvorrichtung nicht betätigen, weil diese weggerutscht ist.
Das alles sind nur ein paar Beispiele, die mir jetzt einfallen. Und noch etwas: Ich kann mir gut vorstellen, dass ein Mensch in dieser Situation so aggressiv werden kann, dass er um sich schlägt – egal, wen er trifft. Sie muss einfach einmal raus – die aufgestaute Wut, das ständige Gefühl nicht richtig verstanden zu werden, sich falsch behandelt zu glauben und nichts dagegen machen können.
Vielleicht möchte man einfach nicht mehr – möchte sterben. Aber auch das geht nicht. Sich vor einen Zug zu werfen oder Tabletten nehmen ist einfach nicht möglich. „Ach du schöner Tod – wann kommst du zu mir?“ ich will nicht wissen, wie oft dieser Satz schon in Gedanken ausgesprochen wurde.
Oder man ist geduldig und lässt alles so geschehen wie es kommt. Ändern kann man es nicht. Sich morgens beim Aufwachen freuen auf den Tag, der auch Positives mit sich bringt. Man muss es nur sehen. Den lieben Morgengruß der Pflegerin mit einem Lächeln erwidern, sich das Frühstück geben lassen, dann die Arbeiten in der Behindertenwerkstatt erledigen – soweit man es noch kann, Augen und Ohren offenhalten für die schönen Dinge – ja, es gibt sie noch, die schlechten ignorieren. Sich abends ins Bett bringen lassen. Noch ein wenig Fernsehen gucken – dabei einschlafen. Die Nachtwache macht den Fernseher aus.
„ Ja, Herr Wagner, so oder so ähnlich sieht der Tagesablauf von Lisa und einigen anderen Bewohner mit einer schweren Behinderung aus. Da sagten Sie zu mir, dass alle ihre Betreuer haben und dass für sie gesorgt wird. Klar wird für sie gesorgt so gut es geht, und betreut werden sie auch. Aber Sie sehen jetzt selbst, wie oberflächlich solche Aussagen sind. Es ist die typische Meinung von Menschen, die so ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollen, wenn sie Menschen mit einer Behinderung sehen. Sie sind doch in Heimen untergebracht, es wird für sie gesorgt, sie arbeiten meistens in Behindertenwerkstätten und verdienen noch zu ihrem vom Sozialamt ausbezahlten Geld etwas dazu.“
Ich hörte auf weiter zu reden. Herr Wagner hatte wohl genug gehört. Das sah ich ihm an. War sein Gesicht anfangs noch teilnahmslos – so konnte ich jetzt Ernst und Betroffenheit darin lesen. So waren auch seine Worte zu verstehen als er zu mir sagte, dass er das so noch nie betrachtet habe.
„Aber“ sagte ich zu ihm „ es gibt auch Bewohner, deren Behinderungen nicht so schwer sind. Sie können an Freizeitangeboten teilnehmen wie den Tierpark in Bad Mergentheim besuchen, an einem Open Air Konzert teilhaben, sich einen Film im nächst befindlichen Kino anschauen. Es ist ja nicht so wie früher, als Behinderte lieber zu Hause blieben. Heute sind sie in unserer Gesellschaft integriert obwohl es da noch viel zu tun gibt. Manche sind sogar in gehobenen Stellungen verschiedener Berufszweigen zu finden. Oder die Menschen, die in ihren Arbeitsstellen einen Unfall hatten und es dadurch zu einer Behinderung kam. Sie erhalten von der Berufsgenossenschaft eine ansehendliche Betriebsunfallrente, mit der sie sich Vieles kaufen können und somit ihre Behinderung erträglicher machen. Sie sehen, auch hier gibt es Unterschiede.“
Wir plauderten noch ein wenig, und als Herr Wagner ging hatte ich den Eindruck, dass es ein anderer Herr Wagner war als der, den ich in meiner Stammkneipe kennen lernte.

Hans-Jürgen Heckmann, Bewohner des Eduard Knoll Wohnzentrums

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1 Kommentare

Thomas schrieb am 13.05.2013 - 11:34 Uhr

eine wirklich eingängige, tiefgehende Geschichte.
Ich wünschte es gäbe viele "Herr Wagner", die sich einmal ganz unbefangen ein paar Minuten Zeit nähmen,
um die Lebenwirklichkeit von Menschen mit Handicap
direkt aus erster Quelle kennen zu lernen.


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